24. Passion des Realen II

Unabhängig von der Frage, wie weit sich ein Künstler einer ganz anderen Kunst, einem ganz anderen Sehen öffnen kann und darf (s. Leibniz Universen), unabhängig von der Frage, wie weit Susanne den Kreis der Usedomer Maler begriff, der sie großzügig und freundlich in seiner Mitte aufgenommen hatte, und wie weit dieser sie begriff – unabhängig von all dem, glaubt die Endunterzeichnende, daß in der Hoch-Zeit des eiszeitlich malenden A.R.Pencks, der Schöne Urmensch durch Europa strich, und alle bezauberte, so wie einst vor 35 000 und mehr Jahren.

Biermann: Ein Gedicht als Geschenk für die Kandts

Geschenk für die Kandts, Handschrift von Wolf Biermann, 1968 auf Pappe geschrieben – Er meint heute zu diesem bisher ungedruckten Gedicht : kein erstklassiges, aber ein wichtiges Gedicht

Er besichtigte neugierig die Gegend, er saß auf den Hügeln und spielte Flöte, malte Sachen, schnitzte Skulpturen, erfand dies und das und machte alle Utopien wahr. Er driftete auf einmal durch die 60er Jahre des 20.Jahrhunderts, durch eine Zeit, in der zumindest im Westen heftig darüber debattiert wurde, ob es noch Kunst, Literatur, Musik, ob es überhaupt noch ein Wort nach Auschwitz geben könne. Doch diese philosophischen Rückzugsorte der an sich selbst verzweifelnden, mit sich selbst beschäftigten Vernunft betrat der Schöne Urmensch nicht, weil er das gar nicht konnte, wie er sich auch nicht in den Zentralen der system-orientierten Diktaturen blicken ließ, ausgenommen vielleicht in Begleitung Strawaldes, der sich in seine SED-Versammlungen hineingetragen haben wird wie die zauberische Erinnerung an das verlorengegangene Paradies, wie Halldor Laxness‘ schönstes Buch der Welt [1] („Das Verlorene und wiedergefundene Paradies“) und daher mit gesetzmäßiger Regelmäßigkeit immer wieder neu von seinen Genossen verboten wurde, der schöne Urmensch hatte vielleicht auch 68 vorbeigesehen bei Novotny und Alexander Dubcek in Prag („Sozialismus mit menschlichem Antlitz“) – aber die Zentren der Macht betrat der Schöne Urmensch normalerweise nicht oder nur aus Versehen, denn er paßte da überhaupt nicht hin, weil sein Denken sich im immer-währenden Hier und Jetzt befand/ befindet, wo die Hingabe dir sagt, wo es lang geht und nicht der Plan und nicht die Macht und nicht der Nutzen.

Es war eine große Zeit. Die Welt wurde neu erschaffen und alle neue erschaffenen Menschen, ob reich oder arm oder weiß oder bunt, ob in Afrika, auf Kamtschatka oder in Paris trugen in den 60ern Jeans und weiße Hemden oder Blusen und Leinenschuhe und schlenderten pfeifend über die Straßen, schliefen auf dem Boden und machten sich lustig über Krämerseelen und schlechte Musik. Es war eine universalistische Zeit, denn der Schöne Urmensch ist Universalist.

Wie war das möglich nach so viel Leid und Jammer der Kriege? Die Künstler der Moderne hatten diese neue Zeit bereitet. Das Allgemeine wurde ein wenig entmachtet durch die Sinnlichkeit, die Einmaligkeit, die Wiederentdeckung der Existenz. Die Künstler der Moderne brachten eine neue Lebensform mit und diese ihre spezielle Passion des Realen veränderte das Lebensgefühl auf der Welt. Sie war außerordentlich erfolgreich und wirkt (erschafft) unverdrossen bis heute.

Die wunderbare neue Weltschöpfung durchsickerte auch noch die DDR, letztere in den starren System-Bandagen des 19. Jahrhunderts, wo Jeans erst mal der Klassenfeind waren und dann lange Haare (die wurden zwangsverschnitten) und Jazz und dann Leinenschuhe mit nackten Füßen (die wurden eingemauert) und Sonnenbrillen und Elvis und der Rock‘nRoll, aber auch die 12-Toniker oder die Seriellen und die Bilder von den sinnlichen Eiszeitmalern und die Sinnlichkeit überhaupt und sogar die kritiklustige (vernünftige) Gruppe 47 und der Dichter des Heiseren (Paul Celan) und der Dichter, der das Schleimige, man hält es nicht für möglich, machen wollte, (Sartre), und Biermann, der noch an die Klarheit glaubte, wie ja auch der Theologe Karl Barth – komisch und subversiv war die Pop-Art und Joseph Beuys (und logo auch Warhol), die den Alltag zur Kunst machten und die Kunst zum Alltag, was doch den Kapitalismus zum Wahnsinn gebracht hätte, aber auch sie waren der Klassenfeind, woraus wir zunächst 2 Lehren ziehen können:

  1. die nicht selbst ernannte Gesellschaft der Feinde der Diktatur ist extrem bunt und die Freunde der Diktatur extrem spinnenwebenfarben.
  2. Die Feinde der Diktatur bringen Leibniz in Schwierigkeit, denn, ungeachtet ihrer Buntheit, vermochten sie sich zu verständigen.

Diese Verständigung scheint über noch nicht definierte Leitungen zu funktionieren, weshalb wir diese versuchsweise‚ das Menschliche‘ nennen wollen, also über eines Menschen innersten Ausdruck, also, wir sagen jetzt mal, es ist ausgerechnet sein Allerinnerstes und Einzelstes, sein Einsamstes und Heiligstes, was die Verständigung möglicherweise transportiert und die konservative Ricarda Huch neben den expressiven Alfred Döblin setzt und sogar neben Thomas Mann, der sich immer ein bißchen verspätet, weil er sich vom Schachbrett der Vernunft, nein, nicht losreißen, das tut er nie, sondern wegdehnen muß (wir stellen uns unsere Seelen am besten gummibandmäßg vor), hinüber zum Sitz des (über alle Vernunft gehenden) Gespürs und feinen Geschmacks, wo vielleicht allein Verständigung wirkt.

„Es bedurfte keineswegs eines großen charackters
für unsere absage unseren widerstand  unseren trotz
wir hatten das fünkchen unbedingten mutes
doch im grunde wars eine frage des geschmacks
ja des geschmacks
der aus  seelenfasern und gewissensknorpeln besteht.“ (Zbingnew Herbert) [2]

Es ist also eine bestimmte Vorstellung vom Menschen, von dem, was er sein könnte, eine stumme dies-bezügliche Achtung, die davor bewahrt, in die Netze der Ideologien und systematischen Weltverbesserer zu gehen. Es ist dieser bodenlose Menschenglaube jenseits der Vernunft, der ‚die Nationale‘ Ricarda Huch vor den Leimruten der Nazis schützte und es ist auf der anderen Seite nicht die Vernunft an sich und auch nicht die Kritik am Menschen, auch nicht die Verzweiflung am oder die Angst vor dem Menschen, sondern offenbar allein der Glaube ans System (Gesetz) und das Stellen des Systems über den Menschen, was in die Falle der Diktaturen lockt.

tl/dr

Der Glaube an die Auserwähltheit der Menschen ist lebendigkeitsserhaltend.

Es war dieser Glaube, der dann die alte Christenkirche, ungeachtet aller ihrer Sünden, zu einer multiplikatorischen Plattform der friedlichen Revolution von 1989 werden ließ, obwohl diese Kirche in der DDR, insbesondere in ihren Führungsetagen, durchsetzt war von passionierten Systematikern, wie der Stasi, freiwilligem Mitläuferexperten mit zweckmäßigen (Baconistischen) Machtkalkülen, superschlauen Protagonisten einer Staatskirche, aber die ‚kleinen‘ Pfarrer vor Ort setzten sich gegebenenfalls über derartige Obrigkeit hinweg und halfen, die Kerzen in den oft zitternden Händen der ersten Mahnwachen-Demonstranten anzuzünden. Dank dieser blieb die Kirche, was sie immer war oder sein sollte, ein Ort, wo die Herrschenden, Könige und Kaiser, Kanzler und Staatsratsvorsitzende und all die Mr. Presidents, Chodorkowkies und Pussy Riots ihre Knie beugen müssen und wo niemand sonst der Herr im Hause ist, als der allmächtige Schöpfer und sein tapferer tumber Pfarrer. Mit diesem Mikro-Exkurs widerspricht die Endunterzeichnende dem teuren Mitstreiter aus Neuen-Forums-Tagen, dem hier schon mehrfach angeführten Werner Schulz, der ganz wertfrei auf die Zivilgesellschaft setzt. Das reicht nicht, meint sie. Eine Zivilgesellschaft ist nur so gut, soweit sie die Würde des einzelnen Menschen auf ihrem Banner hat. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – nur wenn sie das verinnerlicht, ist die Zivilgesellschaft mehr als Protestbürger. Nur dann kann sie Leben pusten, hier in das Haus der repräsentativen Parteien-demokratie, dort in die menschenfeindlichen Wüsten der Usurpatoren. Wir sollten verdutzt und beeindruckt eine Sekunde innehalten und uns vor diesem sehr merkwürdigen Wesen ‚Mensch‘ verneigen, das sich selbst und seine absolutistische Vereinssatzung, die Vernunft, überschreiten kann. Wir sollten, allen menschen-gemachten grauenhaften Massakern zum Trotz den Ruf gestatten: Du bist groß, komischer Mensch. Nein. Geht nicht. Aber vielleicht geht das: Ihr seid zur Größe verurteilt, ihr komischen Menschen! Und so hallt es auch irgendwie aus Susanne Kandt-Horns Bildern.

SKH: Das Frauenfest

SKH „Das Frauenfest“ 1970, Öl/Hf, 130 x 153 cm

Susanne und Manfred hatten sich im Oktober 89 auf eine Rentner-Westreise begeben und in Halle an der Saale, wo die Tochter, (End-unterzeichnende) lebte, Station gemacht.

Sie waren öfter dort, denn Susanne druckte mit dem erst in Stralsund, dann in Juliusruh auf Rügen lebenden Maler Kuni (Manfred) Kastner, (alias Beerkast), in der Druckerei der Burg Giebichenstein (Kunsthochschule) bei dem berühmten Drucker Gerhard Günther.

Die Technik der Zinkografie hatte sie durch den mit seinen surrealen Stadtlandschaften bekannt gewordenen Kastner erlernt, der sie auch sonst verstärkt beriet, sogar ihre Rahmen entwarf und bearbeitete und gegen ihre Ausjurierungen bei den letzten großen Dresdener Kunstausstellungen ins Feld zog.

Als ihres Mannes Kraft schwächer wurde, erwies sich Kuni Kastner als zuverlässiger Ratgeber und Helfer bis zu seinem frühen Tod 1988.

Im Bereich der Zinkografie entstand auf diese Weise eine überwältigende Zahl von großen, überzeugenden vielfarbigen Arbeiten. Ob der zunehmende Niederschlag von künstlichem, von irgendwie über- oder unnatürlichem oder caravaggistischem Licht in SKH’s Arbeiten auf das Konto dieser Künstlerfreundschaft geht – darüber rätselt die Tochter.

SKH beschäftigte sich im letzten Lebensjahrzehnt verstärkt mit George de La Tour. Sie sprach nicht über das Malen, ‚sie könne das nicht‘, hatte sie einmal zu Willi Sitte gesagt. Es ist jedoch unübersehbar, daß sich etwas weg von dem sinnlichen Hauch ihrer frühen Arbeiten hin zu einer supranaturalistischen Form bewegte. Der Glaube, daß Gott (‚bitte verzeihen Sie den Ausdruck‘, sagt an solcher Stelle.Lévinas) auf Erden unter den Menschen wohnen könnte, nahm ab, betrachtet man ihre Bilder. ‚Ihren Mensch‘, ihren Glauben an den Menschen, ihr Bekenntnis eines schönen und guten Menschen hüllte sie immer konsequenter in eine surreale, in eine sozusagen jenseitige, un- oder überwirkliche Haut.

Die teilweise intensiven Freundschaften mit den Malern der Leipziger Schule, Wolfgang Mattheuer, Gerhard Kurt Müller und Frieder Heinze mögen das unterstützt haben.  Der Maler Frieder Heinze bei Leipzig machte sie mit dem westdeutschen Galeristen Holger Dell bekannt. Wie sicherlich alle anderen infrage kommenden DDR-Künstler auch, mußte sie jedoch unterzeichnen, daß sämtliche Ost-West-Verkäufe über den Staatlichen Kunsthandel abgewickelt wurden, was u.a. bedeutete, daß sie ihre Prozente von dem Erlös in Ost-Geld ausgezahlt bekam. Die Berliner Sozialpädagogin i.R. Dr. Ruth Beger erstellte für sie in einer über mehrere Jahre gehenden mühseligen Detektivarbeit ein nahezu lückenloses Werkverzeichnis.

Kleine Ermutigung
Ach verzagt nicht Freunde,
	Hattet ihr wahrlich geglaubt,
		Jahrtausende langer Kämpfe Macht
			Löse lieblich sich in diesen Tagen?

Jammert doch der Tränen wegen
	Länger nicht, ihr Lieben,
		sind sie der Regen doch auch
			Für die zartesten Blumen

Müßte der Strauch nicht des Glücks
	Verdorren, ja verdorren
		Ohne des Leidens
			Wolkenbrüche? [3]

Kuni Kastner: blaueBrücke

Kuni Kastner, sign. Beerkast „Blaue Brücke“, 1981, Zinkografie

Fussnoten

  1. meinte stets Susanne
  2. Zbingnew Herbert, übersetzt von Ludwig Mehlhorn 1986 in einem Samisdat, zitiert bei Erhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989, Berlin 1998, S. 533
  3. Wolf Biermann, aus „Mit Marx- und Engelszungen, Wagenbach Berlin 1968