10. Das Kind

Er spricht von einem „sovran shrine“ (säuischen Schrein?), den „die verschleierte Schwermut im Tempel des Entzückens selbst besitze“. (P.S. das Wort sovran gibt es nicht, so weit zu sehen, haben alle Wörterbücher der Welt kein ‚sovran‘; das erfundene Wort kann somit nur von su = Sau kommen.) Bei Blake ging es um die Vernichtung der beflissen frommen Lüge. Bei Thomas Mann wird es zweideutig, die versteckte, angespielte Lust des Bürgers auf die Lust. Eine Verhohlenheit, die das Kindliche und das Kind vertreibt. Es ist diese Vertreibung, will ich sagen, die des kultivierten Menschen Lust in erwähnter ‚verschleierter Schwermut‘ zurückläßt.

Doch Hermann wendet sich ab, sehen Sie! Sehen Sie meinen Großvater, meinen göttlichen Gefährten in Kindertagen, wie er sich abwendet, wie er sich irritiert, ja womöglich bestürzt weg- und dem Wartburgblick zuwendet und wie Katja ihrem solcherart düpierten Gatten routiniert zu Hilfe eilt, bzw. nach Art der bürgerlichen Gattin das Unstatthafte von ihrem Haus abzuwenden weiß, indem sie ruft „wir müssen, Thomas“.
Kann man in Hermanns Reaktion einen Hinweis darauf sehen, wie wir Anna Susannas Zeugung zu verstehen haben?
Darf man vielleicht allgemein darauf hinweisen, daß hinter den Scherben der frommen Lüge, als diese mit einer einzigen Liedzeile von „vasenhafter Schönheit“ zerschmettert wurde, sich ein wundersames Land auftat, in dem es Wahrheit und Lüge überhaupt nicht gab? Gar nichts von den beiden? Erinnert sich keiner dieses Landes voller Denk- und Schöpferkraft, bewohnt von Göttern, die den Kopf hoben wie Tiere, Gefahr witternd, wenn die Riesen mit den geröteten Gesichtern und gefalteten Brauen ihr Reich betraten und, zuweilen sogar den Finger hebend, von ‚gut und böse‘ sprachen?

Thomas Mann Hermann Nebe, Katja Mann, Moritz Mitzenheim

Thomas Mann Hermann Nebe, Katja Mann, Moritz Mitzenheim

SKH:   ‚Noah beim Opfer‘

SKH., ‚Noah beim Opfer‘, Bild mit Beschriftung: „gewidmet der Arche Noah Kirche in Ückeritz“, Öl/Hf. 1963/1974

Einschub zum Bild Noah beim Opfer
Ende der 50er ging die DDR zu einer sehr restriktiven Kirchenpolitik über, letztere wurde generell als antiquiert und anachronistisch verurteilt. Infolgedessen durfte die Christenlehre nicht mehr in den Schulräumen stattfinden. Mit großer Empörung bauten sich die Ückeritzer darauf hin allein aus Spendenmitteln und im freiwilligen Aufbauwerk eine eigene Kirche auf dem höchsgelegenen Punkt im Ückeritzer Zentrum in Form eines barackenartigen Gebäudes mit einem schönen Gottesdienstraum, (für den sogar ein Schiffsharmonium aufgetrieben wurde), einem Vielzweckraum und einer Sommerwohnung für Kur-Pastoren. Der Bau wurde ‚Arche Noah‘ getauft und in ihm jeden Sommer ein ereignisreiches Programm für alle Altersklassen dargeboten. Für diese Kirche malte SKH das große Tafelbild als ihren Beitrag zum Überstehen ‚der großen Flut‘. Es freut die Endunterzeichnende, daß SKH den Noah allein gemalt hat, anders als ihr großer Kollege von der Sixtinischen Kapelle, der ihn mit seiner Familie zeigt. Jener Autor, der uralte Menschheits-Mythen zu den ersten Büchern der Bibel verarbeitet und dabei das Heils-Geschehen auf einzelne (ganz schön unmögliche) Personen ausrichtet, (Adam, Eva, Noah, Abraham) – dieser Autor weiß, daß es nur so geht. (Das ist kein Votum gegen Familie oder Freunde oder Vereine oder BI’s !)

Hob man den Kopf aus Sorge vor irgendwelchen unverständlichen Strafen? Bangte man nicht viel mehr um die Unversehrtheit, die Heilheit seiner Welt, die die unverantwortlichen Erwachsenen mit ihren Systemen und Wertungen in Gefahr brachten? Gibt es nicht den Raum, so heil und heilig, daß jeder heil wird, der ihn betritt? Ricarda Huch (s.u.) kennt ihn. Sie weiß, daß es auf die Absichtslosigkeit ankomme, die „aus dem Unbewußten ströme“. „Dadurch unterscheidet sich der Christ oder Idealist von dem Ideologen, Dogmatiker oder Fanatiker“, sagt sie. [1] Ja, sagt die Endunterzeichnende, wenn man bei ‚Christ‘ nicht ausschließlich und allein an das oft allzu eingerichtete und moraltheologisch wohlsortierte Kirchenumfeld denkt.

Der griechische Volksarzt und Evangelist Lucas  kannte den heilen Raum auch, (Und der Engel sprach „Fürchte dich nicht, Maria.“ Lucas 1, 30 ff). Er hat ihn schön beschrieben, und ich würde ihn anders beschreiben, weil jeder ihn anders beschreiben würde, weil er einzigartig ist, (der Raum und der Beschreiber), und das ist das Unbefleckte am Unbefleckten. Es ist unwiederholbar. Unverallgemeinerbar. Es gibt kein Definiens. Sollte man den verhöhnten Formeln „Unbefleckte Empfängnis und unbefleckte Zeugung“ (letztere von mir erfunden), bei allen zugestandenen Bedenken, nicht wenigstens rein theoretisch zutrauen, sich in einem bestimmten Raum des Weltverständnisses hin und wieder mit Realität zu füllen, einem Raum, den wir herablassend ‚kindlich‘ nennen? Ist Wirklichkeit nicht immer umwerfend, das heißt niemals nicht umwerfend, also stur unaufgeklärt, d.h. heil und heilig bzw. unbefleckt, also kindlich? Ist Wirklichkeit nicht immer einzigartig, also per se ‚über allem Verstand‘?

SKH Frauen mit Kindern und Taube, 1971

Frauen mit Kindern und Taube, 1971, Öl/Hf., 62 x 87cm

Was ging Schakespeare durch den Kopf, als er schrieb „Die Unschuld ist das Größte, was wir besitzen“? Was ging Hermann durch den Kopf, daß er ihn wendete? Man muß wissen, dass die beiden, Thomas Mann und Hermann Nebe eine Variation auf das bereits intonierte Thema ‚Gustav Nebe – Josef Kürschner‘ darstellen, wobei Hermann seinen Vater, den glaubensfrohen protestantischen Bischof vertritt und Thomas Mann den Aufklärer Kürschner, also den Mann, den Martin Luther sicherlich zu den „ Goldenen Schüsseln voller Scheiße“ gezählt hätte, wie er es mit Erasmus von Rotterdam machte in seinem berühmten Text über die Freiheit: De servo arbitrio, („Über den geknechteten Willen“).[/su_column]

Mit diesem Text über die in unseren Seelen wohnende, über alle Vernunft gehende Schöpferkraft trampelte Luther auf der Aufklärung und allem menschlichen Wollen und Willensakten herum. Fraglos ist Luthers Schrift „Der servo arbitrio. ..“ der göttliche Schlüssel zur göttlichen Freiheit. Es geht gar nicht anders. Fraglos hat Luthers Schrift Deutschland gemacht, das komische Weltreich aus kleinen Länderfetzen in Leibniz’scher Formation und herrlichen Riesen an Geist und Kraft. Nichtsdestotrotz müssen wir um eines einzigen Umstandes willen, ‚die goldene Schüssel voller Scheiße‘, die hier den Namen Thomas Mann trägt, im Auge behalten, nämlich ausgerechnet um der Freiheit willen, noch schlimmer: um der Freiheit der Frauen willen, vielleicht aber auch aus grundsätzlicher Ehrfurcht gegenüber der von der Vernunft geschaffenen Bewußtheit und dem daraus resultierenden Bewußtsein, diesen beiden Stammländern der Vernunft, die zu durchstreifen keinen mehr loslassen wird, der sich dort einmal aufgehalten hat, (weshalb die Betroffenen ja ‚Erb!-Sünder‘ heißen). Es waren die Erbsünder, die Frauen in Ketten legten und es waren verwirrenderweise die Erbsünder, die die Freiheit der Frauen auf völlig undurchsichtige Weise beförderten. Jedenfalls hat das so den Anschein. Es waren also die Aufklärer und  nicht die Männer der Kirche, schon gar nicht die Kirche,  [2]die die Erlösung der Frauen vom Muß (von müssen), speziell Anna Susannas Erlösung, voranbrachten. Allerdings hätte es diese aufklärenden Aufklärer nie gegeben ohne das christliche Menschenbild, d.h. ohne den christlichen Rekurs auf das persönliche Gewissen eines jeden Einzelnen. Ohne den geringsten Zweifel an – Luthers „De servo arbitrio“ aufkommen zu lassen, müssen wir, so schwer es fällt, noch einmal betonen, daß es die blinde geruchlose taube gefühllose, ständig eingleisig in der Irre ringelnde züngelnde Vernunft war, die in den seinerzeit unentfliehbaren Katakomben der weiblichen Geschlechterrolle wundersam gnädig das liebliche Licht, die selige Luft, den Duft des Frühlings und der allgemeinen Menschenwürde blies, denn auch der armseligste Wurm kann Löcher in Verliese bohren und deshalb ist der kleinste Wurm zuweilen groß. Ja, womöglich größer, als die großen Männer und Frauen, die Ricarda Huch im Auge hatte, jene Genien, die aus ihrer virtù heraus neue Welten schufen und das deutsche Wesen nährten. Man merke noch einmal, es war die Vernunft, die den Frauen das Geschenk der Gegner der Vernunft zu Füßen legte – die Absichtslosigkeit. Die Absichtslosigkeit, die streng Verantwortungslose,  [3] die Unschuld, kann die Welt schöpferisch, d.i. göttlich, strömend und einzigartig machen. Die Vernunft hingegen ist unübersichtlich.

SKH „Anna Tania im Garten

SKH „Anna Tania im Garten“, 1973, Öl/Hf, 55 x 66 cm

 

Will man sie ordentlich wegräumen in die Schublade Gottes oder des Teufels, muß man feststellen, daß sie da schon überall herumwuselt und sich überhaupt nicht sortieren läßt. Liegt das an ihrer von Hegel beobachteten Fähigkeit zur Volte: Das Wissen der Philosophie als das absolute Wissen ist „die wiederhergestellte Unmittelbarkeit.“ [4] Ich wiederhole: ‚Die wiederhergestellte Unmittelbarkeit‘! Der Geist, der aus sich herausgetreten, der ‚objektiv‘ geworden ist und sich mit seinem Anfang entzweit hat, kehrt zurück zu diesem Anfang und stellt die anfängliche Einheit wieder her. Nun erst kennt er sich absolut. Nun also ist er allwissend und wieder das, was er einmal war – unmittelbar, im herrlichen Hier und Jetzt. Das hieße, er wäre nun wieder der Schöne Urmensch, aber bekleidet mit Bewußtsein. Er wäre der auferstandene Tyros unter den leuchtenden Steinen im Garten Eden (Hesekiel 28 ). Er wäre der Messias.

 

Fussnoten

  1. Huch, Entpersönlichung, GW VII, S.671f
  2. gegen Paulus, Gal.3,28: „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib
  3. Formulierung von Heiner Müller
  4. Hegel, gegen Ende der Jenenser Vorlesungen 1805/06