Der Aufbruch der Arbeiter und der ‚Gosse‘ [1] in ein selbstbestimmtes und verantwortliches Leben gehört zu dem Schönsten oder ist vielleicht überhaupt das Schönste ist, was in der 10 000jährigen Geschichte der seßhaften Menschheit geschehen ist. Es ist der Triumph des 20. Jahrhunderts. Der 1. Satz im bundesdeutschen Grundgesetz „Die Würde des Menschen ist unantastbar. …“ verkündet ein neues Menschheits-Äon. Dieser Gang des Proletariats zur Würde und zur Mündigkeit ‚veränderte alles‘, meint die Endunterzeichnenden‚ will man davon absehen, daß letztere sich mehrmals täglich mit Nachrichten aus dem In- und Ausland konfrontiert sieht, wonach sie vorübergehend nicht ihrer Meinung ist und will man davon absehen, daß die systemischen Ansätze im Rahmen dieses Aufbruchs sich ins Gegenteil verkehrten – in eine grauenhafte Entmündigung. Kommunismus, Sozialismus, wie Nationalsozialismus und Apartheid richteten Blutbäder, Völkermorde, Straf- und Erziehungslager, kurz, unsägliches Menschenleid an. Zur Ausnahme in der politischen Appassionata wurden die Demokratien. Eine besondere Ausnahme (wenn mir diese Fast-Tautologie gestattet sei), wurde die deutsche Nachkriegsdemokratie mit der sozialen Marktwirtschaft.
Wir hatten bereits an anderer Stelle überlegt, daß der Erfolg der Demokratien an ihrem Menschenbild liegen könne, genauer gesagt, an der Wertschätzung des persönlichen Gewissens eines jeden einzelnen Menschen, ungeachtet seines Alters, Geschlechts, Verdiensts, seiner Nützlichkeit, Intelligenz, Schönheit und Gesundheit, seiner Passionen und Überzeugungen. Ihre Wertungen und Entscheidungen trifft die demokratische Gesellschaft in der Debatte, im funkensprühenden Austausch der Interessen, in einer listigen, teuflischen, höhnischen, grandiosen, nervenzerrüttenden und, wenn’s gut läuft, in einer geistvollen, parlamentarischen Kampfkultur, seit einiger Zeit bereichert durch die konsens-orientierten Runden Tische und eine erwachende schöpferische Zivilgesellschaft.
Das geht gut, so lange das Menschenbild in Ordnung ist und nicht diverse Spähprogramme die Menschheit in logarithmengestützte Verwertungseinheiten sortieren und die politische Klasse nicht der Versuchung erliegt, entscheidende Plätze in der Gesellschaft nach derlei Muster zu besetzen.
Wer Sohn ist und nicht Knecht, [2] der bete, daß sich die erhebende weltweite Zivilgesellschaft vor dieser drohenden großen Gefahr als Korrektiv bewährt, vielleicht bewährt sie sich aber auch nicht. Wenn nicht, bedeutet dies das Ende der heißesten und schönsten Zeit, die die Menschheit sich nach der Paradieszeit auf Erden nahm.
Wir hatten bereits gesehen, daß die ‚Passion des Realen‘ ein anderer Ausdruck für die gute, alte, brandgefährliche Utopie war. Wir hatten zwei gen-pools untersucht, die an der Entstehung von Susanne beteiligt gewesen waren, nämlich die ihrer beiden Großväter und hatten dabei zwei hochkonträre Positionen ins Auge fassen müssen, die eine in der Person des Superintendenten D. Gustav Nebe, eines Mannes des Glaubens, der an das Gute im Menschen und das Himmlische Jerusalem, d.h. an eine gute zukünftige Welt glaubte; die andere in der Person Prof. Joseph Kürschners, eines Mannes des Wissens, Ritter hoher Orden, der einen kritisch rationalen Blick auf die Welt warf und nicht nur den zukünftigen guten Menschen bezweifelte, sondern darauf bestand, daß der Mensch prinzipiell immer der gleiche sei und bliebe und auch die Welt.
Wir hatten ferner festgehalten, daß diese Position der Vernunft und jene dem Glauben (an das persönliche Gewissen eines jeden Menschen) entspringt. Und wir hatten gesagt, daß das westliche Menschenbild auf jüdisch-christlicher Tradition aufbaut und so wundert es nicht, daß wir beide beschriebenen konträren Positionen bereits in den ersten Kapiteln des ersten Buches Moses, (das sind so die ersten Passagen der Bibel), finden: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bildes Gottes schuf er ihn und er schuf sie als Mann und Frau“ (wörtlich: Stecher und Gebohrte, Gen. 1,27) und dann nach der Sintflut: „…Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. …“ Gen.8, 21. Der biblische Kompilator, der die beiden unvereinbaren Menschen-Theologien (wenn mir das Wort gestattet sei) unmittelbar aufeinander folgen läßt, hatte offenbar kein Problem mit dem Arrangement. Wie steht es nun mit Anna Susanna. Wird sie dem Erbe ihrer Großväter gerecht? Kann das ein Mensch überhaupt. Muß ihn das nicht zerreißen?
Sie würde sich vielleicht wenig unterscheiden von all den anderen in der DDR so beliebten Arrangements mit arkadischen Traum und schöner vernünftiger Welt in der Tradition der Marx-Engels’schen Philosophiermethodik. Hatte der Materialismus das ewige Leben abgelehnt, so wollte er doch auf Ewigkeit nicht ganz verzichten und klammerte sich, wenn ich so sagen darf, an das ewige Gesetz der Vernunft mit aristotelischer Logistik und im Bereich der Künste an das klassische Ideal eines ermeßlichen Kosmos und die mythischen Folien der griechischen Altertümer.
Irgendetwas ist jedoch anders bei der Susanne Kandt-Horn. Es ist die Übertreibung! Das Lachen im tiefsten Ernst. Es gibt in ihrer Arbeit nur eine sich selbst nicht widersprechende Instanz, das ist das strenge programmatische, abenteuerlich vorbehaltlose Ja zum Sein. Es ist dieses Ja, das gegen Tod und Teufel antritt. Es ist dieses universale zeitungebundene Ja, das einst ein ganz Großer der Weltliteratur, der Antiphilosoph Paulus, gleich einem Edikt [3] in die Welt setzte . Der Ausdruck desselben jedoch bleibt in SKH’S Bildern ‚dieser Welt‘ voller Wertungen und Grenzen verhaftet. Doch manchmal schimmert ihr Ja auch unmittelbar auf und macht uns lächeln. Das kommt vom Spielerischen. Es ist der Übermut und die innere Distanz, mit der sie ihre goldenen Kugeln in die Waagschale wirft.
Susanne rundet ihren Menschen, bis er die Formen eines Riesensäuglings annimmt, der den Schönen Urmenschen, das Paradies, die Utopie vertritt. In empörten Protestbriefen sozialistischer Kollektive ist gar von „Kugellagerfabrik“ die Rede. Tatsächlich macht die Übertreibung der Form möglich, daß es bei ihr nicht mehr nur um das schöne Ermeßliche, den Sieg der Erkenntnis über das uferlose Sein, daß es also um Metaphysik aus dem 19. Jahrhundert geht. Die Form sprengt sich in Susannes Bildern auf subversive Weise selber in die Luft. Was sehen wir? Tatsächlich sehen wir wohlgerundete Menschenkörper. ‚Kugel‘ ist nicht falsch. Sie erinnern wie gesagt an rundliche Babies. Baby und Kleinkind sind die einzigen auf der Welt verbliebenen menschlichen Wesen, die fraglos und ohne Wenn und Aber, d.h. vollkommen uneingeschränkt „ja“ sagen können zum Sein. Sie sind die letzten Mohikaner des Unendlichen. Das ist ihre Größe und ihre atemberaubende Botschaft vom Glück, vor der wir zurecht lächelnd in die Knie gehen.
Vielleicht gibt es verschiedene Idiome, in welchen man dieses grenzenlose Ja sprechen kann. Anders, als das sich jenseits der Sprache ereignende unsägliche existenzielle Ja der sinnlichen Malerei, nutzt Susanne das Formenspiel der sogenannten ‚Gotiker‘, der Dürers und Cranachs.
Wie diese deutschen Renaissance-Maler schafft sie ein Gedränge, sie stellt damit die erwähnte schöne ermeßliche Form der Klassik und damit auch den guten Menschen (den unmenschlichen), den sie offenbar macht, ja, selbst Deutschlands spätromantisches Arkadien, die allemannische Zaubernuß, ständig in Frage, d.h. sie stellt die Normative infrage, um auf ein Dahinter, ein Wirkliches zu verweisen.[4]
Dabei arbeitet sie oftmals hart am Bildrand, den Raum nahezu sprengend, will sagen, sie stellt diesen und seine faßbare Form und die ganze Idealität zur Disposition, oder besser: sie stellt die Möglichkeit seiner Infragestellung in Aussicht und balanciert auf diese Weise die (verstehbare) Welt von Zeit und Raum in unmittelbarer Nähe der (über allen Verstand gehenden) ewigen unendlichen Welt des Schöpfers, die darauf besteht, die einzig wirkliche zu sein, was sie zweifellos auch ist, denn sie ist die Gegenwärtige.
Susanne baut ihre Figuren meistens unmittelbar am vorderen Bildrand auf, von wo sie oft direkt in die Augen des Betrachters blicken. So transportieren sie ‚das Ansehen‘ der alten Götterbilder. Sie schafft eine Situation der Offenbarung. Es ist dieses Ansehen, aus dem Emmanuel Lévinas eine ganze Philosophie zieht, welche er jedoch nicht politisch oder moralisch und vernünftig, sondern eher messianisch ur-menschlich und als erhobenen Einspruch gegen die vieltausendjährige klassische europäische Erfassung des Wirklichen durch Gesetz und Vernunft versteht. Im Ansehen erscheint der dem Gott (verzeihen Sie, daß ich das Wort gebrauche, sagte, wiegesagt, Lévinas während eines Vortrags) ebenbildliche Mensch. Es ist dieser Mensch, der Ja sagt zum Sein.
Der Mensch in dem Moment des Ja-Sagens zum Sein ist das Vermächtnis von Susanne Kandt-Horn in ihren, von der unfaßbaren Wirklichkeit berichtenden, in seltenen Momenten diese Wirklichkeit auch berührenden, wie von selbst aus einer uralten Welt herübergewachsenen, in streng ermeßlicher, also unzeitgemäß griechisch-klassischer allgemeiner Form, sozusagen teutonisch-arkadisch gefaßten, diese Fassung und ihr ‚Gutes‘ jedoch übersteigenden, unverwechselbaren und oft genug atemberaubenden Bildwelten.
Ricarda Horn, Mai 2014
Die Endunterzeichenende dankt den freundlichen Mitarbeitern der Kunsthalle Rostock, insbesondere der Museologin Frau Heilmann, für die Zurverfügungstellung von Bildmaterial. Sie dankt gleichermaßen allen Anderen, die mit Beiträgen, Auskünften und Bildern zu dieser Arbeit beigetragen haben.
Sie war sehr bewegt, daß Wolf Biermann zwei noch nicht gedruckte Gedichte für diesen Text freigegeben und sogar ein drittes Gedicht aus alten Tagen mit einer neueren Version persönlich zusammengeklebt hat.
Die Endunterzeichnende verneigt sich vor der legendären Web-Meisterin Cornelie Müller-Gödecke, die zu den Zauberinnen gehört, die Unmögliches möglich machen. Bei der Digitalisierung des vorliegenden Textes führte Cornelie Müller-Gödecke der Autorin eine unübersehbare Fülle von technischen Möglichkeiten vor. Um den allzuoft atemlosen Text mehr Luft und den Bildern mehr Stille zu gewähren, bekamen jedoch in der Mehrzahl der Fälle allereinfachste Lösungen den Zuschlag. Die Webmeisterin hatte die menschliche Größe, ihr Können und ihre Brillanz unter diesen ihr unbequemen Scheffel zu stellen, wofür die Autorin ausdrücklich danken möchte.
Ricarda Horn, Juli 2014
©Text und Bild Ricarda Horn, Autoren und Leihgeber 16.5.14