11. Anti-Sein

Aber da kommt ein ernst zu nehmender Einwand.

Es ist Emmanuel Lévinas, der sich darüber beschwert, den Menschen über den Stab eines einzigen Kalküls, nämlich das der sokratischen Vernunft zu -brechen – das ist schiere Gewalttat, sagt er. Die Vernunft und ihre Produkte, z.B. Systeme, oder Rechtsstaat oder Wirtschaftsordnungen oder ‚das Politische‘ (s. Ricarda Huch) zum einigenden Band der Menschen machen zu wollen, bedeutet Gewalt. Jede Intention ist Gewalt. Insofern das Denken Intention ist, ist es gewalttätig.

Lévinas sieht einen absolut gewaltlosen Messias jenseits der Vernunft, jenseits der Sprache. Ein Subjekt, frei schwebend im – sagen wir mal – Nichts, ‚das Universum, das spielende Kind‘ (Heraklit), ‚Gottes Liebling‘ (Bibel, Sprüche 8), das Jesus-Baby mit der Weltenkugel in einem Sein, das nicht das Sein sein kann, denn schon das Sein ist gewalttätig. („Gott hat das erwählt, was nicht ist, τα μη οντα, damit es das, was ist, τα οντα, zunichte mache.“ Paulus, 1.Kor.1,28)

Wir halten Lévinas‘ schweren Angriff auf den deutschen Idealismus fest, auch in Hinblick auf seine These, daß dieser Idealismus die kommenden Diktaturen gefüttert habe mit Erfindungen, wie: Verordnungen, Richtlinien, Welterklärungen, Ideologien und gehen weiter in der Hoffnung, daß sich diese heftige Unausstehlichkeit zwischen Vernunft und Guter Hoffnung beim Gehen irgendwie lösen werde, denn schließlich, wir deuteten es eingangs an, war es an der zukünftigen Anna Susanna, deren Entstehung wir hier gerade begleiten, diese beiden Todfeinde, Vernunft und Gute Hoffnung zu versöhnen. Ja, wir deuteten sogar an, das ganze 20.Jahrhundert hatte nichts anderes in seinem ansonsten schwerlich greifbaren, wolkenfarbenen Gehirn, oder anders gesagt: das 20.Jahrhundert ist die Fusion von Guter Hoffnung und kritischer Vernunft.

Von der Vernunft nehmen wir jetzt erst mal nur den Eindruck mit, daß sie ganz schön rätselhaft ist. Daher wollen wir, so weit wir dazu fähig sind, einen flüchtigen, einen streng leichtfertigen Straßen-Blick auf den vernünftigen Thomas Mann werfen, als den ganzen Gegner des Unermeßlichen und Großen und absichtslos Strömenden, also auch als den Gegner des Kindlichen und Wunderbaren und Unmittelbaren und als den routinierten, den geradezu unübertrefflichen Gegner des Aufschichtens von Zeiten, dergestalt, daß letztere auf einmal (nach Art des Sandwiches) und nicht alle hintereinander kommen (nach Schlangenart), vielmehr zur ewigen Gegenwart oder Un-Zeit gerinnen, und alles, was da in Zukunft geschieht, ebenfalls dieser ewigen Gegenwart oder Un-Zeit auferliegt, und das Kind (der unschuldige Schöpfer) nicht kläglich zurückgelassen oder weggeschmissen, sondern beigesellt, bzw. untersetzt wird als Fundament dem Erwachsenen, ihm als smart base, als beschwingendes Trambolin dienend, auf das wiegesagt und auf nichts sonst sich der chronische Sünder gründen soll, wenn er nicht verloren gehen will, so sagen es jedenfalls die großen alten Lehrer der Christenheit, welche letztere ihrem herausragenden Feind Thomas Mann und nicht nur diesem stolz und ungerührt ins Auge blicken – (es muß angemerkt werden, daß Thomas Mann im amerikanischen Exil zu den Unitariern konvertierte, welche die Trinität ablehnen und so weit gehen, Gott pantheistisch als ‚das Gute‘ schrumpfzuköpfen, bzw. im Weckglas der griechischen Vernunft, das ist der Allgemeinbegriff, einzukochen) – wie dieser unitarierende Thomas Mann unbeeindruckt und reichlich symmetrisch zurückguckt, kühl, spöttisch und im Namen der Vernunft Verantwortung und Satisfaktion fordert mit einem gewissen triumphierenden Lächeln um die Mundwinkel, denn er glaubt, die Mehrheit hinter sich zu haben, tatsächlich betrachtet die Mehrheit die Vernunft auch 1947, ungeachtet aller erfahrenen Höllen, als Sicherheit.

Im Faustus, seinem gerade geschriebenen Buch, rechnet Thomas Mann nun mit der Frohen Botschaft ab und legt Martin Luther ‚die Schande Deutschlands‘, die Nazizeit, zur Last, denn dieser habe mit  seinem Ich und seinem Pochen auf das göttliche persönliche Gewissen eines jeden Menschen und mit den Fürsten und der ganzen Kleinstaaterei, die dabei herauskam, den Grund dafür gelegt, dass Deutschland keine Revolution gelang, daß es stattdessen im Mief der ungetanen Befreiung die Schlangeneier ausbrütete, aus denen das furchtbare Verlangen der Deutschen nach Führung gekrochen kam. Wir haben nun allen Grund, darauf zuversichtlich zu hoffen, daß Hermann Nebe mit seinem leidenschaftlichen Luther-Herzen unerschütterbare Worte des Widerspruchs fand. Sicher wird er gesagt haben, Dr. Martin Luther habe die Freiheit, diese schwere heilige Last, die Jesus Christus mit großer Mühe vom fernen und irgendwie windigen Jenseits herunter und zur Welt gebracht hat, diese göttliche Freiheit – und eine andere gibt es nicht – denn alle Freiheit auf Erden beruht auf der Wertschätzung des persönlichen Gewissens – es ist immer der Einzelne, der das Gesetz oder die allgemeine Gepflogenheit in Frage stellt –