2. Genius oder System

1914 ging in dem ‚verspäteten Staat‘, der das noch sehr junge deutsche Reich war, eine Schrift um mit dem Titel „Ideen von 1914“. Ihr Herausgeber und Protagonist will in die Köpfe der jungen Reichsdeutschen schluchtentiefe – (in den Schluchten leben die Drachen) – will folgenreiche Unterscheidungen sprengen zwischen ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘, zwischen ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘, zwischen ‚deutschem Brauchtum‘ und ‚englischen Krämerseelen‘, zwischen ‚deutscher Ehrlichkeit‘ und „gallischer Ober-flächlichkeit, zwischen ‚deutscher ritterlicher Treue und ‚slawischer Unterwürfigkeit‘. Es handelt sich um eine uralte Disposition: hier das Gesetz, dort das Genie des einzelnen Menschen. Die Sammlung macht daraus eine Entweder/oder-Kontroverse. Sie totalisiert das Thema und bereitet so ungewollt dessen Mißbrauch durch die Nationalsozialisten vor, mehr noch, sie befördert den Faschismus, doch zunächst inspiriert sie den 1. Weltkrieg, jenen ersten unaufhörlichen Krieg, der bis heute weht tut, in der Ukraine, auf dem Balkan, im Nahen Osten, in den ehemaligen Kolonien, wie auch die erwähnte Disposition ‚Mensch oder System‘ den Heutigen schmerzhaft und lähmend auf die Füße fällt. Als Initiator, Herausgeber und teilweiser Verfasser der „Ideen…“ gilt Johann Max Emanuel Plenge. Er ist Sozialdemokrat, Doktorvater von Kurt Schumacher und einer von denen, die Deutschland, unisono mit den deutschen Kaisern als Sonderkultur sehen, d.h. als Wächter der Genien und die vielleicht auch meinen, die innerdeutschen Fliehkräfte seien so groß, daß nur ein mächtiger gemeinsamer Feind sie zusammenhalten kann. Der Feind wird gesucht und gefunden in dem Dreier-Bündnis, der sogenannten Triple Entente: England, Frankreich und Rußland, die ihrerseits die allgemeine Verunsicherung mehrt mit arrogant bis aggressiv diffusen Kommentaren zur wachsenden Kraft des neuen Deutschen Staates. Auch Thomas Mann, dem wir im weiteren noch begegnen werden, stößt in dieses Horn, man denke an sein „Im Kriege – Reflexionen zum Gegenstand des Krieges“, und an seinen großen Essay „Betrachtungen eines Unpolitischen“, der 1918 erscheint, und in dem er zwischen ‚deutschem Geist‘ und ‚französischer Zivilisation‘ zu differenzieren trachtet, ganz im Stile der Ideen von 1914, aber auch in großer, ja, plagiater Nähe zu Ricarda Huch’s bereits 1916 erschienenem „Martin Luther“, nur, daß die Huch den Krieg bereits im Stadium seiner Vorbereitung scharf kritisiert hatte und ab 1916 in die neutrale Schweiz geht. Vielleicht wird der Verlauf dieser dem Leben einer deutschen Malerin gewidmeten Betrachtungen die Lösung des Rätsels streifen, wieso die beiden großen deutschen Autoren, Huch und Mann, von wortwörtlich gleichen nationalen Werten ausgehend, zunächst zu derart konträren Positionen kommen. Sie werden die Wege von SKH’s Familie in dem uns bevorstehenden Jahrhundert ein paar mal kreuzen. Jetzt aber befinden wir uns erst mal im Jahr 1914, dem Geburtsjahr Anna-Susannas (Standesamt) oder Anna-Susannes (Taufschein).

Alle rüsten. In Deutschland wird von Einkesselung des Reiches gesprochen. In England, angesichts der sprießenden deutschen Kriegs-Marine, von Einkesselung der Britischen Inseln. Plenge ist Sozi. Also einer, der über das analytische Kluge-Else-Denken des Fin de Siècle hinaus auch kontroverse Positionen zusammenhalten gelernt und sich irgendwann mit der Tradition des linken Internationalismus auseinandergesetzt haben muß. Wie kommt so einer zu dem Geist der berühmt-verwürgten Liedzeile „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ die der verzückte Spätromantiker Emanuel Geibel (der Dichter von dem wunderbaren Lied „Der Mai ist gekommen ..“) bereits vor der Reichsgründung verfaßt hatte?

Schreckliche Begegnung

SKH „Schreckliche Begegnung“ (Studie) 1980
Tusche/Aquarell; Feder/ Pinsel, 29 x 41 cm

‚Deutschlands Beruf‘
1861
Soll’s denn ewig von Gewittern
Am umwölkten Himmel braun?

Soll denn stets der Boden zittern,
Drauf wir unsre Hütten baun?
Oder wollt ihr mit den Waffen
Endlich Rast und Frieden schaffen?

Daß die Welt nicht mehr, in Sorgen
Um ihr leichterschüttert Glück,

Täglich bebe vor dem Morgen,
Gebt ihr ihren Kern zurück!
Macht Europas Herz gesunden,
Und das Heil ist euch gefunden

Einen Hort geht aufzurichten,
Einen Hort im deutschen Land!
Sucht zum Lenken und zum Schlichten
Eine schwerterprobte Hand,
Die den güldnen Apfel halte
Und des Reichs in Treuen walte.

Sein gefürstet Banner trage
Jeder Stamm, wie er’s erkor,
Aber über alle rage
Stolzentfaltet eins empor,
Hoch, im Schmuck der Eichenreiser
Wall’ es vor dem deutschen Kaiser.

 Taufschein Anna Susanne Nebe

Taufschein Anna Susanne Nebe

Wenn die heil’ge Krone wieder
Eine hohe Scheitel schmückt,
Auf dem Haupt durch alle Glieder
Stark ein ein’ger Wille zückt,
Wird im Völkerrat vor allen
Deutscher Spruch aufs neu’ erschallen.

Dann nicht mehr zum Weltgesetze
Wird die Laun’ am Seinestrom,
Dann vergeblich seine Netze
Wirft der Fischer aus in Rom,
Länger nicht mit seinen Horden
Schreckt uns der Koloß im Norden

Macht und Freiheit, Recht und Sitte,
Klarer Geist und scharfer Hieb
Zügeln dann aus starker Mitte
Jeder Selbstsucht wilden Trieb,
Und es mag am deutschen Wesen
Einmal noch die Welt genesen. [1]

Ganz anders klang rund zehn Jahre zuvor Robert Blum in der Frankfurter Paulskirche: „Der Gedanke der Befreiung und Erlösung der Völker … Das Ziel der Verbrüderung des freigewordenen oder freiwerdenden Westens, das ist es, dem ich meine Stimme leihe. Mit der Erreichung dieses Ziels ist die Freiheit und der Friede in Europa gesichert, mit der Erreichung dieses Zieles ist die größte und intelligenteste Abtheilung der europäischen Staatenfamilie in einer unbesiegbaren Vereinigung zusammen. …“ [2]

Poskarte: Hermann Nebe als Band-Leader John Philipp Sousa II

Postkarte: Hermann Nebe als Band-Leader John Philipp Sousa II

Doch wieso ist ausgerechnet der obige Geibel mit seinem deutschen Wesen Trauzeuge bei der Trauung eines der tollkühnsten 48er Revolutionäre, nämlich Gottfried Kinkels, des ‚Märtyerers der Revolution‘, wegen seiner libertinären Überzeugungen auf Leben und Tod verfolgt von der Preußischen Justiz, und schließlich zu lebenslänglich verurteilt, während der ebenfalls Lebenslängliche, sein Kampfgefährte Carl Schurz, durch einen Abwassergraben entflohen, nun dabei ist, den teuren Kinkel aus den finsteren Kasematten der Spandauer Zitadelle zu befreien, um sich über Warnemünde, London, schließlich in Amerika als der seinerzeit berühmteste „forty-eighter“ feiern zu lassen und gleichzeitig einer der herausragendsten Köpfe der amerikanischen republikanischen Partei in Gründung zu werden, Generalmajor, Divisionskommandeur der Freiwilligenarmee im Bürgerkrieg, Bürgerrechtler, leidenschaftlicher Vorkämpfer und Organisator der weltweiten Anisklavereibewegung, amerikanischer Präsidentschaftskandidat, der – dann schon US-Innenminister mit seinerzeit revolutionärer Indianer-Politik – unterstützt von seinem Freund Mark Twain [3] in christlicher Nächstenliebe seinem begeisterten deutschen Fan Hermann Nebe überseeisch schwarze Musik in Noten zukommen ließ, damit er, Hermann Nebe alias Armin oder Arminius Raabe alias Pseudo Sousa II alias G. Ukkeda usw., glühender Verehrer von Kinkel und Schurz, Mitbegründer der ersten, (von duckduckgo noch nicht erfaßten), Carl-Schurz-Antisklaverei-Gesellschaft in Deutschland, hartnäckiger Verfechter (ich glaube bis zum Ende seines Lebens) des deutschen Reichs mit und ohne Kaiser, welcher letzterer zunächst aufgerufen war und abgelehnt hatte und dessen Bruder Wilhelm I. dann von Bismarck verdonnert wurde, als mythisch- monarchischer Bindfaden das turbulente Stimmen-, Interessen-, Klassen- und Ständegewirr des verspäteten deutschen Staates zusammenzuknoten als dessen Deutscher Kaiser, derweil Bismarck das von ihm nach Versailler Vorbild kompilierte Staatsgebilde offenbar zu entgenialisieren trachtete [4], um es zu politisieren, was seinen, wie gesagt, flammenden Anhänger, den erwähnten Hermann Nebe, zeit seines Lebens ein ‚Deutscher‘, in die Lage versetzte, mit den schwarzen Noten und den von ihm selbst bearbeiteten schlenkernden afro-amerikano-teutono-Märschen als erster Leader der ersten Big Band mit dem ersten Swing (und Swing ist etwas Großes) im ersten wirklich deutschen Reich beim Rauf- und Runterraven des nunmehr deutschen Reichsrheinufers die Neger zu befreien, oder waren es die Neudeutschen, welchen letzteren er gab, was die armen Neger zu geben hatten: wundersame denkferne Gelöstheit des Leibes, „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ [5] leibliches Wohlgefallen, sagen wir mal: dringend benötigte Gelöstheit, um nicht zu sagen ‚Erlösung‘, gespendet von Onkel Tom in seiner Hütte, was den Jungbürgern Reichsdeutschlands vorkam, als sei die berüchtigte Ringeldirangel hinübergewechselt vom Baum der Erkenntnis in den weißen Taktstock des jugendlichen Bandleaders, welche Kontroverse (Erlösung oder Satan) die Endunterzeichnende weitergibt an den unbesiegbaren Vordenker der Freiheit, Saulus Paulus und das subversive Kap.8 seines Briefes an die Römer (Bibel), oder, einfacher, an Hesekiel 36,25-27 (Bibel): „…Ich reiße das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich lege meinen Geist in euch …“ Da kommt der süße Nebe mit der Katzenmusik, flüsterten die Burgfräuleins. Hermann Nebe war auserkoren, Vater von Anna Susanna zu werden.

SKH „Im Wind“ 1979 (2.Fassung), Öl/Hf., 60 x 70 cm, Städtisches Museum Eisenhüttenstadt

SKH „Im Wind“ 1979 (2.Fassung), Öl/Hf., 60 x 70 cm, Städtisches Museum Eisenhüttenstadt

Fussnoten

  1. Emanuel Geibel‚ Deutschlands Beruf, 1861, Internet gutenberg DE
  2. Robert Blum am 22.7.1848 - (Robert Blum wurde am 9.11. 1848 standrechtlich in Wien erschossen. Blum-Zitate aus: e-mail von Wolf Biermann: „...hier, bevor ich abdüse nach USA die Raketen-Rede von Werner Schulz, die glänzend war und tieftraurig und frech, also Verzweiflung und Hoffnung, Gewandhaus am 9. Oktober 2009, Leipzig
  3. „All of American literature comes from one book by Mark Twain, called Huckleberry Finn ... There was nothing before. There has been nothing as good since.“ Ernest Hemingway, zit. bei Wikipedia, Stichw. Mark Twain
  4. was Ricarda Huch, s.u. nicht zu bemerken schien
  5. von. Luther, frei nach Bibel, Lucas 2,14