8. Der Streich

Gustav Nebe hatte bestimmt, daß Hermann Theologie studieren sollte, aber dieser schrie „Nein! Niemals!“ und wollte Kunstgeschichte. Nach langen furchtbaren Kämpfen entschied der Vater, er dürfe Jura studieren und das sei sein letztes Wort, welcher sprachlicher Unsinn wohl so zu verstehen ist: wenn er sagte ‚Jura – das ist mein letztes Wort‘ dann war unzweifelhaft ‘Wort‘ sein letztes Wort. Also studierte Hermann Jura, bis er wegen „Verwilderung“ exmatrikuliert wurde, (bei einer Studienreise nach Italien per Kutsche hängten er und seine Freunde die Beine aus dem Fenster und nicht den Kopf, was ihre stolze Alma Mater zu Halle an der Saale als Strolcherei bewertete und also die Exmatrikulation veranlaßte. Daraufhin wechselte er nach Leipzig. Vermutlich dort ersah seine Verbindung, meiner Erinnerung nach die Guestphalia Halle, ihn zu einer Bestimmungsmensur aus, die ihm große Angst machte. Er sei, so erzählte er mir selbst, dreimal um das Pauklokal herumgegangen, bis er sich endlich ein Herz gefaßt, die schwere Tür geöffnet und hineingeschritten war mit seinem legendären Flammenwerferblick aus byzantinischem Auge, welcher das in Scharen herbeigeeilte Publikum zu Salzsäulen erstarren ließ. Es ging um Leben oder Tod. Man focht, wie üblich mit Korbschläger und ohne Maske, doch zudem auch ohne die vorgeschriebene Paukbrille, ohne das vorgeschriebene Herzleder, der Oberkörper außerordentlicherweise nicht mit dem allgemein gebräuchlichen Hemd bekleidet, sondern vollkommen nackt, nur ein angefeuchtetes weißes Seidentuch zum Schutz der Halsschlagader um den Hals und eine Lederschürze „Sackschoner“ genannt, über den Hosen. Als er den Paukboden betrat, herrschte Totenstille. Er war berühmt und sein Gegner war berühmt. Er hatte 2 tiefe Schmisse in der linken Wange. Der Gegner hatte drei. Er zog den Säbel, der Stahl zuckte im Licht der Abendsonne wie der Blitz der Weltschöpfung, und mit diesem einen einzigen Streich sank sein Gegner zu Boden und gab seinen Geist auf.

Hermann Nebe 1914

Hermann Nebe 1914 in Reservistenuniform

Formaljuristisch waren derartige Mensuren bereits verboten, aber am Hofe in Berlin, an den Universitäten und in der öffentlichen Meinung zählten sie zur edlen Manneszucht. So war für alle Fälle gesorgt. Der Dahingesunkene wurde eilend von der gastgebenden Verbindung (Arminia?) ins Ausland geschafft, Anna Susanna zufolge ins tschechische Böhmen der k.u.k-Monarchie nach Prag. Daraufhin füllte sich Hermanns Herz mit Qual, er wurde, was er schon immer werden wollte, Pazifist und reiste zu der Verlobten des Dahingegangenen nach Eisenach. Er wollte sie seines Beileids versichern und ritterliche Unterstützung anbieten. Aber als er zum ersten Mal der wunderschönen Irmgard zu Eisenach gegenüberstand, verließen ihn die Worte im Munde. Sie war zauberhaft, liebenswürdig, ihre Lippen überflog ein Lächeln, das ihm den Verstand raubte, doch sie war von Trauer umhüllt und unter dem Umhang der Schwermut nahezu unnahbar. Hilflos und stumm wandte er sich mit bebendem Herzen weit weg zur Christiana Albertina nach Kiel. In Kiel boomte der Schiffbau. Das deutsche Reich baute seine Kriegsflotte auf englisches Niveau aus, was unter den europäischen Ländern große Unruhe auslöste. Freunde schrieben eine Karte, derzufolge sie gerade auf der „Mitternachtssonne“ mit dem Kronprinzen die Eröffnung des Nordostseekanals gefeiert hätten. Wo er denn gewesen sei? Da ging er nach Kiel und studierte Kunstgeschichte.

Das Studium war noch nicht zu Ende, als er abermals seine Schritte in die Wartburgstadt lenkte und dort blieb. Er begann als Journalist, Verfasser unzähliger Reklamesprüchen, wie. „Von Eisenach da merke dir, die Wartburg und das Aktienbier“ und als Biograf der demütig verehrten Heiligen Elisabeth, (die junge ungarische Prinzessin auf der Wartburg, die gegen alle Gepflogenheit die überlangen Ärmelstulpen ihrer Adelstracht hochgekrempelt und damit einen ihrerzeit in ihrem Stand nobel und streng verachteten Anspruch auf Betätigung signalisiert hatte, in der Folge eine Kultur-, eine Weltenwende auslösend, nicht immer zum Guten, wie die Autorin dieser Zeilen anzumerken sich nicht entheben kann, angesichts mancher heutigen eitlen oder stumpfsinnigen, Demokratie vernichtenden, Natur zerstörenden Aktivitäten, was aber der himmelhohen Bedeutung der Heiligen Elisabeth keinen Abbruch tun soll.

Dennoch sei erinnert: das Abendland stammt von Menschen (im weitesten Sinne) ab, die nicht arbeiteten, malten oder schrieben, nicht mal eine Rechnung – deren ganzes Sinnen sich darauf richtete ‘zu sein‘. Vergiß das nicht, Abendland!) Hermann verfaßte unter verschiedenen Pseudonymen Dramen, Erzählungen, Libretti für Operetten, Texte für Musicals, heimatkundliche Sachbücher, Theater- und Musikrezensionen, er wirkte als Kunstgeschichtler, Burgenkundler und seit 1908 als Schriftleiter der Eisenacher Tagespost. 1925 wurde er zum Burgwart der Wartburg ernannt.

SKH: Gefahr

SKH, „Gefahr“, 1980, Zeichnung/Kugelschreiber/Papier, 39 x 27 cm

Im gleichen Jahr entdeckte er im Südturm den Schriftzug des Bauern und Täufers „Fritz Erbe“ der nach qualvollen Verhaftungen und Verweigerungen des Widerrufs seiner apokalyptischen Visionen um 1533 in den Storchenturm der Eisenacher Stadtmauer geworfen worden war, wo sich so viele Anhänger um ihn scharten, die alle ins Himmlische Jerusalem wollten und durch ein Gitter mit ihm kommunizierten, bzw. allesamt einen frohlockenden urmenschlichen Anarchismus entwickelten, daß man sich 1540 genötigt sah, Erbe verschwinden zu lassen in das 10 m tiefe Verlies im südlichen Turm der Wartburg, in völlige Dunkelheit, Feuchtigkeit und Kälte, nur durch eine Luke in der unerreichbaren Decke, dem „Angstloch“, mit der Welt verbunden. 1541 holte ihn der Reformator Eberhard von der Tann heraus, um ihn zu bekehren, aber Fritz Erbe ließ sich nicht bekehren und so brachte man ihn zurück in das Turmverlies, in dem er starb. Seine vermutlichen Gebeine wurden 2006 bei einer Grabung am Elisabethplan unterhalb der Burg gefunden, eine Tafel ihm zum Gedächtnis angebracht, eine Straße nach ihm benannt, für eine Tafel im Südturm sorgte bereits Hermann Nebe. Dieser führte nun ganze Heerscharen von Besuchern durch die Burg, u.a. Nuntius Pacelli, den späteren Pabst Pius, den Hochhuth-Pabst, der ihm bis zum Ende seines Lebens Geburtstagsgratulationen und Einladungen schickte, [1] als wolle der Papst sich in seiner machtpolitischen Zerrissenheit und qualvollen menschlichen Schwäche an dem frohfeurigen protestantischen Christenmenschen auf der Wartburg festhalten.

Man kann also sagen: Mein Großvater folgte seinem Vater und dessen letztem Wort aufs Wort.

Fussnoten

  1. welchen letzteren Nebe einmal nach seiner Pensionierung mit Unterstützung seines Sohnes Gustav folgen konnte