15. Irmgard

Irmgard Kürschner

Irmgard Kürschner

Sie war war schön, sie konnte bis ins hohe Alter Menschen bezaubern, das Blaugrau ihrer auffallenden Augen wie unter Wasser, als ob die Augen immer nahe am Weinen waren, die gewaltigen weichen Wogen des braunen Haares, dazu ein lieblicher, stets leicht lächelnder Mund. Sie war der beste Kunstpfeifer, den ich je gehört hatte. Immer wieder mußte sie mir vorpfeifen:

Wenn der weiße Flieder wieder blüht,
sing ich dir mein schönstes Liebeslied.
Immer immer wieder
knie ich vor dir nieder,
trinken wir den Duft von weißem Flieder… [1]

In den 20ern floh ein Russe, ein Schriftsteller, namens Vladimir Brenner vor den Bolschewiki und gelangte in das Haus Irmgards im Palmental. Seine deutschen Vorfahren kamen aus der Gegend von Charkow, (heute ukrainisch: Charkiw), dem Gebiet, das gegenwärtig in der Schlacht zwischen West und Ost (oder zwischen System und Person?) in der Ukraine eine Rolle spielt. Brenner, der sich gab und aussah wie Yul Brunner, pflegte einen millieustudienhaften Realismus oder besser: Naturalismus. Es war der neugierige Blick des Kleinbürgers und so dokumentierte er in seinen Büchern minutiös das, was die Ost-Ukraine seinerzeit war, nämlich tiefes tiefes Rußland und die Dörfer im Bewußtsein der grenzenlosen Steppe um sie herum, die sich von der Puszta Ungarns über die Südukraine durch Rußland, Kasachstan, Mongolei bis nach Peking wälzte, diese ururalte kulturelle Riesenautobahn der Götterboten und Nomaden mit den verwunschenen anrainenden Dörfern und deren Bewohnern, letztere mit der unendlichen eisklirrenden, sonnenversengten, wölfischen Steppe im Herzen, waren – wen wundert‘s – erfüllt von Triumph und Herrlichkeit und unsäglicher Demut. Seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden trotzten sie der Unermeßlichkeit. Es wird berichtet, daß Brenner vor der im Sessel sitzenden Irmgard kniete und Kosakenlieder in ihren Schoß sang:

Eine blaue Nacht ist in mich gesenkt,
und was mein Herz ergrübelt und denkt,
ist voller Trauer …

Es faltet die Flügel der flugmüde Wind
Und alle Stimmen der Steppe sind
Voller Trauer…

Was soll noch mein einsamer wegloser Ritt,
wohin ich auch reise, sie reitet mit,
meine Trauer… [2]

Dann beugte sich Irmgard zu ihm herab und flüsterte mit heißem Atem in seinen Hals oder sein Ohr:

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen… [3]

Vladimir Brenner, genannt Brennerpass, verbrachte eine längere Zeit in dem lächelnden großzügigen und vielleicht auch verwunschenen Haus im Palmental, er wurden den Kindern ein teurer Onkel, dann kamen die Nazis und er zog weiter. England. Amerika, Fredericksburg in Virginia, wo er im Rahmen einer Professur für Europäische Literatur am College lehrte und nie warm wurde mit der amerikanischen pleasant ville middle class. Bis zum Ende seines Lebens in den 60ern tauschte er Briefe mit Anna Susanna und schrieb über Irmgard im Juni 1960, ein halbes Jahr vor ihrem Tod: „… Deine prächtige Mutter pflegt diesen Monat „Rosenmond“ zu benennen. Sie läßt in ihren Zeilen die Silberquellen murmeln und in den Heckenrosen die Nachtigallen schlagen, bis einem die Galle überläuft…“

Irmgard war thüringische Landesmeisterin im Bobfahren, im Platztennis, (sie konnte den Schlußsprung über das Netz), im Singen zur Gitarre, sie pfiff, malte, dichtete und übte sich im Romane-Schreiben. („Die Frau in der Brandung“und “Hinauf zu den Sternen“ kamen jedoch später.) Sie war acht mal verlobt. Ihr achter Verlobter war bei einem Säbelgefecht dahingegangen. Verlobt sein bedeutete einen Kuß.

Fussnoten

  1. Schlager der Zeit ?
  2. Vladimir Brenner „die Verstummte“ Bremen 1949, S.19
  3. von Theodor Storm (nach meiner Großmutter aus meinem Kopf)