16. Die Hochzeit

Hermann, nicht groß, athletisch, ausgestattet mit artistischer Kraft und Körperbeherrschung, (noch mit 75 Jahren führte er seiner Enkelin die Riesenwelle am Reck der Nordschule in Eisenach vor), lackschwarzem Haupthaar und Augenbrauen über den kyklopischen Augen, wie von einem persischen Miniaturmaler gezogen, Hermann blies nun am frühen Morgen die Trompete. Irmgard in weißer Bluse, horchte im Garten. Lauschend, nach innen blickend, versuchte sie herauszufinden, woher der schöne schimmernde Klang kam. Hermann, Sohn des Bischofs mit dem frohen Glauben, blies auf dem Bergfried Trompete und Irmgard, Tochter des skeptischen Literaten, erkannte durch das eilig aufgenommene Fernglas den winzigen Bläser auf dem mächtigen Turm. Hermann, aus der christlichen Utopistensippe begrüßte die hehre Morgensonne mit der Trompete und Irmgard in roter Seidenbluse aus dem Lager der Aufklärung rannte die Treppe ihres Schloßturms hinauf, öffnete das Turmfenster und winkte hinüber zum Bergfried der Wartburg.

Hermann, dessen Trompete die Ankunft des Messias mit unbeschreiblich strahlenden weittragenden Klängen verkündete, stand auf dem Bergfried. Irmgard, von ihrem skeptischen Vater erzogen in der Orientierung an der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen, wobei sich ihr scharfer, aber nicht großer Verstand an den Wörtern ‚ewig‘ und ‚immer‘ rieb, jedoch nur so im Vorbeigehen, als wäre alles nicht so ernst, was weniger ‚gleichgültig‘, als ‚zu leicht‘ befunden werden muß, sprang in roter Bluse mit dem blauem Pariser Seidenschal ihrer Mutter die Turmtreppe des Hohenhainsteins hinauf, riß das Fenster auf, beugte sich weit hinaus und winkte mit dem Tuch. Auf und ab und auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Auf …

Hermann, der Sohn seines Vaters, voll des Glaubens, das Gottes Güte alles gut machen werde, rannte den Bergfried hoch und blies und blies und blies. Irmgard rannte die Turmtreppe hoch und winkte auf und ab, auf und ab, auf und ab. Hermann mit der im Morgenlicht blinkenden, unverhüllten Trompete und der Überzeugung, daß die Erde nicht dem Gesetz (Vernunft) gehört, sondern der frohen Hoffnung, ging gemessenen Schritts den Hohenhainstein hinauf. Er stellte sich breitbeinig vor die Gartentür des Kürschnerhauses und setzte an:

My Lord what a morning,
My Lord what a morning,
My Lord what a morning,
When the stars begin to fall
You’ll hear the trumpet sound,
To wake the nations underground,
Look in my God’s right hand
When the stars begin to fall,
When the stars begin to fall.
My Lord what a morning,
My Lord what a morning,
My Lord what a morning,
My Lord what a morning,
My Lord what a morning,
My Lord what a morning,
When the stars begin to fall
You’ll hear the Christians shout,
To wake the nations underground,
When the stars begin to fall
You’ll hear the sinner moan,
To wake the nations underground,
When the stars begin to fall
When the stars begin to fall
My God, what a morning
Look in my God ‘s right hand
When the stars begin to fall
Look in my God’s right hand
When the stars begin to fall. [1]
Hermann und Irmgard, 1916

Hermann und Irmgard, 1916

D. Gustav Nebe im Amtsornat

D. Gustav Nebe im Amtsornat

Die hohe Haustür öffnete sich. Irmgard, feinnervig, spielerisch aufsässig, spöttisch, abenteuerlustig, die Trauer über den hingegangenen 8.Verlobten ein wenig leichter hin, wie eine Stola umgelegt, das Gehirn träumerisch, voll mit Versen und ausgedachten Liebesromanen, erscheint in roter Bluse und weißem leichten Rock und jenem Lächeln und beide sehen sich an.

Wir müssen uns nun mit Emmanuel Lévinas befassen, um zu verstehen, was da losging. Er schreibt über das Ansehen, Ansehen ist: „Erwählung durch das Gute, die genau nicht Handlung ist, sondern die Nicht-Gewalt selbst. Erwählung heißt: Einsetzung des Nicht-Austauschbaren. Daher Passivität, die passiver ist als jede Passivität: Passivität nach Art der Kindschaft; aber vorgängige,vorlogische Unterwerfung… Die Passivität ist das Sein des Jenseits des Seins, das Sein des Guten, das die Sprache zu Recht – indem sie wie immer Verrat übt – durch die Wörter ‚Nicht-Sein‘ umschreibt; …“ [2]

So weit zum Ansehen. Wir hörten, Irmgard und Hermann sehen sich an.

Vom Turm des Kürschnerhauses wird sich eines Tage ein Jüngling zu Tode stürzen wollen. Es ist Ralph, der Sohn von Irmgards Bruder Wolfgang. Wolfgang ist Maler und Farmer in Deutsch-Ostafrika, verheiratet mit Marguerite Silz, die er in Paris beim Kunststudium kennengelernt hat. Der verlorene Weltkrieg zwingt die DeutschenTanganyika zu verlassen. Sie leben nun in Berlin mit ihrem 8-jährigen Sohn Ralph und einem schwarzen afrikanischen Freund. Bei einem Besuch Anfang der 30er bei Großmutter Emma Kürschner auf dem Hohenhainstein erzählt Ralph begeistert von der Hitlerjugend – sie wollen und werden die Welt ordnen und die Menschheit reinigen von allem Schmutz und von den Juden. „Ich bin Jüdin“ sagt Mutter Marguerite. Ralph erstarrt. Er dreht sich um und rennt in Stakkato die Tumtreppe hinauf. Sein Vater hinterher und hält den Sohn vor dem geöffneten obersten Fenster, schon halb auf der Fensterbank, schon ein Bein draußen überm Abgrund, fest. „Ihr habt mein Leben zerstört“ schreit der Junge. „Vorhin hörte es sich so an, als wolltest du uns an den Kragen“, sagte der Vater lakonisch.

Emma Kürschner und Joseph Kürschner 1901 beim Bergsteigen

Emma Kürschner und Joseph Kürschner 1901 beim Bergsteigen

Sie gingen nach Frankreich und überlebten. Ralphs Schwester Miriam heiratete einen Bahlsen mit den Keksen, der so begeistert von Leibniz bzw. dessen perfekt verpackten Monaden resp. Universen war, daß er seine Produkte vollkommen luftdicht zu verpacken begann und folgerichtig Leibniz-Kekse nannte. 1976 telefonierte Anna Susanna, deren Geburt hier in Aussicht steht, in London mit ihrer Cousine. Sie war krank. Sie hatten sich seit 1933 nicht mehr gesehen und würden sich auch später nicht mehr sehen. Die Nazis, die Mauer, die Schwäche des Alters sind aus dem selben Stoff gemacht.

Wir hatten gelernt, daß zwei hochkonträre, einander vollkommen ausschließende Weltanschauungen in den jeweiligen gen-pools der beiden jungen Leute schwammen.
Wir betrachteten insbesondere ihre Väter, weil diese ihrer Zeit Profil und Gesicht gegeben hatten.
Da war einmal der tatkräftige Gustav Nebe mit der beseelten, frohlockenden Heilserwartung und da war der unermüdliche Joseph Kürschner mit dem desillusionierten und infolgedessen angepaßten Wirklichkeitssinn und beide Weltanschauungen schwammen in den Samen der beiden Herren so hochentwickelt in einer sich gegenseitig so vollkommen verweigernden Leibniz‘schen Formation (S. Kapitel 28 ‚Monaden‘), daß man vermuten darf, sie schwammen da schon seit Jahrtausenden und hatten eine glänzende ungestörte Darwinsche Karriere, resp. Evolution absolviert, sie befanden sich gewissermaßen in ihrem Zenit und sollten nun auf einmal das Unmögliche möglich machen und in nicht vorgesehener Weise vermutlich am 2.März 1914, bei einer sinnverwirrenden, um nicht zu sagen, rasenden Umarmung, nämlich bei einem heimlichen Stelldichein von Hermann und Irmgard, den Kindern von Gustav und Joseph, das wirklich ganz und gar Unmögliche, den totalen Aberwitz vollbringen und miteinander verschmelzen. In jenen Tagen ereigneten sich weitere Ungereimtheiten.

SKH „Verliebter Motorradfahrer"

SKH „Verliebter Motorradfahrer“ 1973, Öl/Hf, 79 x 66 cm

Fussnoten

  1. Gospel, Internetressource
  2. Emanuel Lévinas, „Humanismus des anderen Menschen“ Hamburg 1989, S.76f