Beim Niemeyer nahm Susanne und auch ihr Mann anfangs Unterricht, halb im Ernst, halb im Sinne eines Abenteuers, von seiten der Schülerin, glaube ich, unschuldig bzw. absichtslos, von seiten des Lehrers nicht ganz so unschuldig bzw. durchaus absichtsvoll verstanden. Niemeyer unterrichtete hin und wieder diesen und jenen, in der Regel entgeltlos nach dem Auswahlprinzip der Sympathie und letztere war, was Susanne betrifft, nicht klein – genauer gesagt spielerisch ihrerseits und flammend seinerseits und irgendwann, man ahnt es schon, mußte da eine Bombe platzen.
Unnachgiebig seinem Prinzip folgend, welches letztere sich endlich, nachdem man alles Lehrbare abgearbeitet hatte, bei dem unmittelbaren Akt des Malens auf Leinwand oder Pappe als Antiprinzip entpuppte, das die Dinge kommen ließ, wie diese wollten und wie kein noch so ehrenwerter Codex es wagen durfte ihnen vorzuschreiben, lehrte er Susanne das Malen mit dem mit einem Schilfrohr verlängerten Pinsel und das Zeichnen mit ebenfalls per Rohr verlängerten Zeichenkohle, die man am äußersten Ende haltend, leicht und nicht total, aber irgendwie doch absichtslos, also absichtlich absichtslos auf den Malgrund fallen ließ, wo sich dann eine Spur abzeichnete, die sich mählich und wenn der Pinsel bzw. die Kohle es erlaubten, zu einem Bild verdichteten, das manchmal etwas darstellte und manchmal ein Tanz von Kräften war, oder manchmal Wüstenei.
Die Endunterzeichnende hat den dringenden Verdacht, daß der propädeutischen Unterricht nicht sinnlos war, sondern als ein Art Hürde diente. Die Kraft, die benötigt wurde, diese Hürde zu nehmen, zeichnete den Strom des zur Ansicht gebrachten Absichtslosen aus und die Kunst eines großen Malers gegenüber der eines Kindes. Ab und zu schlug der Meister mit der Hand auf den präparierten Pinsel oder Stift, um zu prüfen, ob sein Lehrling diesen auch in der angewiesenen Weise am äußersten Ende locker hielt. Bei solchem Unterricht verließ Susanne ihr Elternhaus. Es versank im Dämmerlicht der großen alten Zeiten, welche letztere es so begeistert behütet hatte. Ohne es zu wissen, (glaube ich zu wissen), verabschiedete sie sich von den Helden der Urzeit, die im Palmental wohnten, tschüß Siegfried, tschüß Paris, adieu Schöne Helena, bye bye Melusine.
Susanne Kandt-Horn hatte bis dahin im Haus ihrer Eltern gelebt, des Burgwarts der Wartburg, Professors Hermann Nebe, wo die Wände geschmückt waren mit ergrauten Fotografien romanischer und gotischer Bausskulpturen, mit Kirchenfenstern versunkener Kirchen, mit Heiligen, die dich ansahen und nichts sonst, mit farbigen Drucken der ruhmreichen Gemälde ruhmreicher italienischer Renaissance-Maler, mit den ‚deutschen Gotikern“ Dürer und Cranach, (wie die jungen Maler heute die Maler der deutschen Renaissance wegen ihrer raumdrängenden Bildkonstruktionen nennen), mit den künstlerischen Versuchen ihrer Mutter Irmgard und ein oder zwei Landschaftaquarellen von der Mutter der Kinderfrau, letztere Tante Käthe geheißen, verh. Przewisinsky, geb. Gutzeit, deren Mutter eine geb. Erbslöh war, und wenn ich mich recht erinnere, eine nahe Verwandte Adolf Erbslöhs, des Mitbegründers der Münchener Künstlervereinigung, mit welchem die Familie Erbslöh und Graf Egmond (s. Goethe) auf einen gemeinsamen Stammvater namens King William the Conqueror zurückblicken konnte, d.h. auf Herzog Wilhelm von der Normandie bzw. Wilhelm der Bastard, Nachkomme Rollos des Wikingers, auch Rollo der Wanderer genannt, weil er so riesengroß war, daß er auf jedem Pferd mit seinen Füßen im Gras schleifte und also lieber wanderte.
Tante Käthes Großmutter väterlicherseits war die Stummfilmschauspielerin Hete (Hedwig) Wegener, Schwester von Paul Wegener, beide Kinder von Marianne geb. Wolff, über diese Urenkel von Franz Anton Niemeyer, einem Sohn von August Hermann Niemeyer, dem Urenkel des Pietisten August Hermann Francke und auf diesen beiden Spuren mit den Nebes und der Familie Otto Niemeyer-Holsteins auf Usedom in direkter Linie ziemlich komplex miteinander verbandelt.
Zu der jungen 1.Weltkrieg-Kriegerwitwe Tante Käthe kamen weitere Menschen im Palmentalhaus, die Diakonisse Schwester Elisabeth, Ricardas Patentante und Kinderbuch-Autorin Marie-Luise Nischelwitzer, geb. Erbslöh, Frau Peter Möller, die Haushaltshilfen Röschen und Puschel, (sie wollten so genannt werden), die riesige, übelredende Weißnäherin Frau Hagelganz, (die ausgerechnet für den mächtigen Schrank mit der Aufschrift „Weißes Linnen – reines Sinnen“ im ersten Stock sorgte), Sekretär Herr Mäscher, Gärtner Herr Schwabe, letztere kamen einmal die Woche, andere blieben über längere Zeit – ihre Geschichten und Familiensagas wurden begeistert ausgebreitet, sie waren die Thriller, Krimis, Seifenopern, Aufklärungsbücher und Comics, sie waren das Unterhaltungsfernsehen der Bewohner des Hauses im Palmental, abenteuerlich, herzbewegend und unvergeßlich. Spätestens, wenn die Sprache auf Rollo den Wikinger kam, dem Begründer der Normandie, gezeugt von seinem transmarinus pater, „was für einem Vater?“ einem überseeischen Vater, d.h. einem dänischen Seeräuber in errore paganorum permanente, „in was?“ in dauerndem heidnischen Irrtum, pflegte Hermann begeistert zu rufen: „Seht ihr, wir sind alle verwandt! Das ist unsere Familie. Europa ist unsere Familie. Italien ist im Harz, die Sachsen sind in England und die Nordmänner in Süditalien, bis sie dann auch Amerika und Grönland und England besiedeln.“ Sein nationaler Internationalismus schien mir immer zu bedeuten, daß er sich nicht betrunken hatte am Augusterlebnis oder angefreundet mit dem 1. Weltkrieg und die Begeisterung des deutschen Kaiserhauses für die Wikinger und die mit Drachenbootköpfen geschmückten Hausgiebel der kaisergetreuen Villen im Märchen- oder Sehnsuchtsstil an den Promenaden der aufkommenden Seebäder zu nehmen wußte als eine Art Begeisterung für die ganze große Welt.
Vielleicht hatte aber auch seine merkwürdig verheiratet-verschwägerte Weltgeschichte mit dem für einen Christen irritierenden Jubelruf ‚in errore paganorum permanente‘ einen anderen Grund: