Die Erdölbohrer von der Lütower Erdölbohrstelle brachten irgendwann Eva-Maria in Versuchung und Biermann zwei gebrochene Rippen, bis die Zeit kam, wo aus dem Fenster des Bruders von Matthias Wegenhaupt zirpenden Gesänge drangen, wie kleine Vögel durch die angrenzenden Gärten fliegend und Biermann Briefe schrieb, die die Endunterzeichnende aufgerufen war, zu Eva zu befördern (und die die Endunterzeichnende für verzweifelte Liebesschreie hielt, was sie ja vielleicht auch waren), und Matthias‘ Bruder aus staatspolitischen Sicherheitserwägungen auf einmal nicht mehr Seemann sein durfte, und Biermann sich was gegenüber von der alten Lütower Behausung quer übers Achterwasser in Warthe auf dem Lieper Winkel ausbaute, wo er, falls er im Besitz eines starkes Fernrohrs gewesen wäre, in Evas Fenster hätte blicken können, oder, woran wir am ehesten dachten, daß Eva eines Tages eine Kerze in ihr Fenster stellen und er zu ihr schwimmen und nie untergehen würde. Tatsächlich aber saß er in Lütow, wann immer man ihn besuchte, und spielte voll rasender Begeisterung mit seinem Zieh-Sohn Manuel Soubeyrand das Hütchen-Spiel, während wir um sein Leben zitterten.
Rückblickend gesehen, wurde Otto Manigk (die Freiheit), der lange Zeit Biermann beherbergt hatte, für seine Großzügigkeit und Offenheit bestraft. Seine Bilder wurden bei den offiziösen Ausstellungen mehr und mehr übergangen. Die Museen kauften nichts mehr von ihm. Aufträge fielen aus. In der Presse fehlte sein Name. Anfang der 70er änderte sich die Kulturpolitik der DDR. Nun waren individuelle Handschriften in der Bildenden Kunst gefragt. 1974 wurde der anfangs noch als ‚bürgerlich‘ und ‚dekadent‘ verschriene Otto Niemeyer-Holstein mit dem National-Preis geehrt. 1970 wurde der Kunstpavillon Heringsdorf gebaut und damit der Präsentationsort geschaffen, für den die Künstler alle seit langem und Suanne Kandt-Horn als Abgeordnete des Kulturbundes 1965 – 1971 im Kreistag gefochten hatten. Ein Jahr vor seinem Tod ‚durfte‘ Otto Manigk die Leitung des Zirkels für bildnerisches Volksschaffen in Pasewalk übernehmen und brachte es fertig, trotz der Qualen, die ihm ein Leberkrebs bereitete, diesen Kreis bis zur letzten Woche vor seinem Tod zu führen, hoch verehrt von dessen Teilnehmern. Viele Menschen hatten den experimentellen Geist Otto Manigks gesucht und waren im Garten vom Niemeyer gelandet. Lüttenort war ein Universum geworden, durchströmt von vielen vielen Menschen, die dort die wundersame unperfekte Verquickung von Urzeit und Moderne hungrig verschlangen wie das Brot des Lebens und bei dieser Gelegenheit ein bißchen was von dem Wunder des Sehens mitkriegten, dem ‚neu oder zum ersten mal‘ sehen.
Die erstaunliche Aussicht auf Aussicht wurde in starkem Maß gesteigert durch die Maler der 2.Generation, insbesondere durch die Söhne Oskar Manigk und Matthias Wegehaupt. Diese hatten sich darauf verschworen, da den Arbeiten der Väter nichts mehr hinzuzufügen sei, andere, genauer gesagt, noch nie dagewesene Ansichten ins Bild zu bringen. Im Zuge dieses Unternehmens, das von den Älteren mit Verwirrung und großer Freundlichkeit zur Kenntnis genommen und von Seiten Niemeyer-Holsteins auch durch kleinere Aufträge oder Ankäufe und vielleicht auch durch Zusprüche bei der Auftragsvergabe des Verbandes Bildender Künstler der DDR (VBK DDR) unterstützt wurde, suchte Matthias Wegehaupt den alles Überflüssige abwerfenden, letzten prinzipiellen Ausdruck von etwas Gesehenem. Das führt zu einem sinnlichen Blick, verbunden mit einem geistigen Willensakt, welcher nach Auffassung der Endunterzeichnenden das Bild mitten im Sein umkippt und zur erkenntnis-theoretischen Frage macht: ‚was ist Sehen?‘ bis der Betrachter (und vielleicht auch schon der Maler) dem Sehen hinterher-, bzw. dem Sehen beim Sehen zusieht. Oskar Manigk notierte in den letzten Jahren aus der Erinnerung die letzten noch auf der Sehrinde haftenden rauschenden Reflexe beim gedankenverlorenen halbblinden (subcorticalen) Gang durch eine Straße oder durch den Tag mit Zeitung, Fernsehen und Fensterblick, oder beim Streifen durch das Usedomer Land oder durch die Erinnerungen und montierte die so gewonnenen Sehfetzen zu Gedanken-Bildern oder besser gesagt: zur Blöße des (wirklichen) Wahnsinns in unseren Synapsen. Sabine Curio, Meisterschülerin von Wieland Förster, heute Vorsitzende des Niemeyer-Holstein-Freundeskreises, (des Programmachers im Gedenkatelier), ringt noch um einen Begriff für das, was sie macht – „intuitives Sehen“ stand letztens (Juli 2014) zur Debatte, verrät jedoch zu wenig über ihre persönliche, festlich schöne Feier der Dinge des Seins um sie herum. Ihr Ahlbecker Kollege Volker Köpp offenbart sich in den Augen der Endunterzeichnenden mit jedem Pinselstrich und jedem Schattenwurf als Camus‘ Mensch in der Revolte. [1] Beide Maler gehen der sinnlichen Malerei verpflichtete Wege.
Lüttenort wurde so nicht nur ein wichtiger Ort der Kunst, der Begegnungen und der guten Gespräche. Lüttenort muß zu den Koordinaten gerechnet werden, wo, wie von selbst und von den Akteuren nicht direkt intentioniert, die Wurzeln für die friedliche Revolution der DDR fruchtbaren Boden fanden und damit verbunden eine weltweit neue Form der zivilgesellschaftlichen Partizipation am politischen Geschehen keimen konnte.
Genauer gesagt: eine Weltenwende. Sie nahm ihren Anfang in privaten Freundeskreisen und Künstlergärten, wobei Lüttenort in Hinblick auf die jüngere Geschichte sicher zu den ältesten und bedeutendsten Treffpunkten in Deutschland gezählt werden muß, ungeachtet der Tatsache, daß das zivil-gesellschaftliche Mitreden sich schon mehr als hundert Jahre zuvor versucht hatte, einen Weg zu bahnen, wenn ich nochmals Worte von Robert Blum, gehalten vor der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 und zitiert von Werner Schulz bei seiner Festrede im Leipziger Gewandhaus am 9.10.2009, anführen darf: „In einer Weise, wie es die Weltgeschichte noch nicht gesehen, hat das Volk in Deutschland seine Revolution gemacht. Hat es mit wenigen Ausnahmen die Gewaltäußerungen gescheut.“
Der legendäre innerste Zirkel der wachsenden Usedomer Gruppe, jener Zirkel, der sich nicht an- und einpaßte, sondern hartnäckig und überwiegend unspektakulär an bestimmten künstlerischen Fragen arbeitete, jener innerste Zirkel ‚ der machte, ‚was er wollte‘, zog wiegesagt Künstler von überall her an. Einige ließen sich auf Usedom nieder, fanden jedoch nicht die richtige Anbindung zum Kreis, andere, wie der Bildhauer Fritz Cremer mit seiner Frau, der Malerin Christa Cremer oder die Malerin Vera Kopetz, die sich, der eine in Loddin, die andere in Ückeritz Schewe-Häuser bauen ließen, wurden gern gesehene Mitglieder der Gruppe und Vera Kopetz die Altersfreundin Susanne Kandt-Horns, ungeachtet der erheblichen künstlerischen Disparatheiten. Mit ihren lapidaren, farbig noblen, technisch anspruchsvollen Siebdrucken ging Vera Kopetz eigene Wege.
Noch eine war mit von der Partie, wenn auch etwas abseits, lokal in Zempin und seelisch sehr dicht an einer messerscharfen analytischen Vernunft gebaut, die Malerin Rosa Kühn. Sie teilte mit Otto Manigk die Liebe zur Klarheit in der Bildkonstruktion. Beide arbeiteten zeitweilig zusammen, wodurch bedauerlicherweise Otto Manigks Ückeritzer Frühstücksbesuche abnahmen.
Häufig vorbei kam die Malerfreundin Wilma Pietzke aus Bellin bei Ückermünde mit ihrem Moped und verzauberte mit ihrem strahlenden Wesen alle, bevor eine schwere Krankheit und ihr früher Tod 1977 diese Begegnungen beendeten. Gemeinsam mit ihr nahm Susanne teil an einem hoch angebundenen mehrwöchigen Studieneinsatz, bei dem sie zusammen mit vielen Bildenden Künstlern der DDR 1958 die Anfänge des Rostocker Hafenbaus zeichnerisch und malerisch festhielten.