18. Die Neuschöpfung der Welt durch Sehen

Oskar Manigk, 2014

Oskar Manigk, 2014, Stifte/Collage, DIN A 4/Blatt

Unzählige Türen hatten sich zu diesem Zeitpunkt im sich selbst bekriegenden europäischen Haus aufgetan und der Wind, der sie aufstieß, war über Ricarda Huchs Unterscheidung in genialische und politische Nationen einfach hinweggefegt. Den großen Männern und Frauen jener Jahre war es offenbar egal, ob sie in einem genialischen oder politischen Land geboren wurden. Anna Susanna wurde in ihrem deutschen Reich begrüßt von einer unvergleichlichen Moderne. In der aufgeschlagenen Tür zeigte diese, berückend voller Kraft und Duft und heißer Schauer, eine überwältigende sinnliche Landschaft. Bereits 1897 hatte Käthe Kollwitz den Weberaufstand gemacht und Menzel war so begeisert gewesen, daß er ihr eine Medaille geben wollte, doch Wilhelm II. verbot es, denn es sei ‚Gossenkunst‘. Auch Paula Modersohn-Becker war schon lange die Paula Modersohn-Becker Es gab die Münchener, Darmstädter, Stuttgarter und Berliner Sezession und aus letzterer kommend, die Neue und dann die freie Sezession. 1908 hatten Marianne von Werefkin, Alexey Jawlensky und Adolf Erbslöh die Neue Künstlervereinigung München, gegründet, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky kamen ein Jahr später dazu und Kandinsky übernahm den Vorsitz. 1910 kamen erstmals Werke von Pablo  Picasso, Henri Matisse, George Braque und den Fauvisten nach Berlin und nach München und später auch nach Köln. Es gab die Expressionisten und die weltberühmte Galerie „Der Sturm“ von Herwarth Walden in Berlin. Auf dem Gebiet der Schönen Künste trat also schon Jahre vor der Geburt der zukünftigen Malerin Susanne Kandt-Horn ein überragendes Empfangskomitee zusammen, doch von alledem drang kaum etwas in die Häuser auf dem Hainstein oder im Palmental. Hier pflegte man, wenn man dem Mobiliar aus schwerer Eiche, den dramatischen Portieren, den spätromantischen Bildern und Kirchenfenstern in den Arbeitszimmern, den klassischen Noten auf dem Klavierpult trauen durfte, eine Sicht zurück, bis hin zu Arminius, dem Cherusker und Siegfried und Barbarossa und den Welfen und Ottonen, die die Fundamente des ziemlich märchenhaften deutschen Reichs bereitet hatten. Das Zwielichte der deutschen Situation in den ersten Tagen des 1.Weltkriegs, dieser unwirkliche Cluster-sound von übereinander geschichtetem Gestern und Morgen schien auf irgendeine Weise auch dem Neugeborenen auf der Treppe anzuhaften.

Vielleicht war sie ja ein 6-Monatskind, jedenfalls von so kläglicher Gestalt, daß der herbeigerufene Arzt der Familie riet, das Leid aller Beteiligten und der kleinen Leibesfrucht nicht unnötig zu verlängern, sondern diese sachkundig und absolut schmerzfrei von der medizinischen Zunft ‚entfernen‘ zu lassen.[1] „Nein“ schrie die Großmutter, Emma Kürschner. „Gebt mir das Kind. Sofort!“ Alsbald landete Anna Susanna in Kissen und Wärmflaschen auf dem Hohenhainstein und wurde ihren eigenen Berichten zufolge mit nichts als Kalbfleischbrühe ernährt. Das alles wirkte Wunder. Der kleine Wurm gedieh. Anna Susanna ließ nie einen Zweifel daran, daß sie eine außerordentlich glückliche Kindheit als Baby im Hause ihrer Großmutter verbracht hatte, der sehr energischen und tatkräftigen Emma Kürschner, geb. Haarhaus (gespr. Arroh, denn sie war in Paris geboren und aufgewachsen), Tochter reicher und weltoffener Industrieller, die das erste, gerade eben von Philipp Reis erfundene Telefon nach Eisenach gebracht und im gleichen Atemzug dafür gesorgt hatte, daß dem phänomenalen Ding eine Leitung bis nach Berlin, ach was, bis nach New York gebaut wurde.

Hermann und Imgard Nebe, Emma Kürschner mit Susi auf dem Schoß

Hermann und Imgard Nebe, Emma Kürschner mit Susi auf dem Schoß

„(Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh)

Stop telephonin’ me (Stop telephonin’ me)

(Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh)

I’m busy I’m busy

(Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh)

Stop telephonin’ me (Stop telephonin’ me)

(Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh, Eh)“  [2]

Dieser Emma Kürschner, geb. Haarhaus war Anna Susanna, die Enkelin, in fragloser Liebe inniglich bis zum Ende ihres Lebens, vielleicht weniger verbunden, als zugtean. „Hat sie in einem Zelt gelebt?“ fragte ich. „Nein“. „War sie eine Beduinin?“ „Nein.“ „Was war sie dann?“ „Eine Städterin, eine Großstädterin, ach was, eine Weltstädterin“ sagte meine Mutter. Von ihr hatte sie vermutlich den Chick, die Keßheit, die ungeheure Lebenslust und die Lust an la mode du jour. Sie (meine Mutter) nähte sich schon als Teeni die meisten Sachen selbst. Sie war bestens informiert über le dernier cri . Nie sah ich jemand besser Charleston tanzen, als Anna Susanna, die da schon Susi hieß und ihre Enkelin sah sie auch noch so tanzen und sich dabei halb scheckig lachen und für die Enkelin war sie dann eine tanzende lachende unüberbietbare Göttin. Sie trug einen schwarzen Bubikopf und das war in jenen Tagen ultra hip. Doch am glücklichsten war sie, behauptete sie, wenn sie sich in das museale und streng gehütete Arbeitszimmer Joseph Kürschners zurückziehen und malen durfte.

Hier, in der abgedunkelten Eremitage versunkener und wie Käfer lexikografisch aufgespießter Äonen, malte sie Ritter und Adelsdamen und Drachen und Drachentöter nach Art der Sängerkriegs-Bilder von Moritz von Schwind auf der Wartburg oder dem, was sie auf dem Hainstein und im Palmental an den Wänden gesehen hatte.

Arbeitszimmer von Joseph Kürschner

Arbeitszimmer von Joseph Kürschner

Im Palmental-Haus gab es ein Archiv mit endlosen Regalreihen, auf denen sich Myriaden von handschriftlichen Manuskriptseiten und postalischen Dokumenten versunkener Bischöfe und Geheimer Räte stapelten. Anna Susannas Vater schnitt nicht nur aus diesen Papieren seiner schreibwütigen Ahnen, wobei diese (Papiere) merkwürdigerweise nie weniger wurden, edles, mit feinen, unleserlichen Gänsekiel-Zeilen bedecktes, handgeschöpftes seidenes, unverwüstliches Clo-Papier, das nach Gebrauch ein mal jährlich aus der Sickergrube im Hof mitsamt der menschlichen Jauche geschöpft und über die Gemüse-Beete im Garten verteilt wurde, wo die nie verwesenden Blätter dann zu weißen außerirdischen Vierecken erbleichten, den Garten in das Mosaik eines vom Wahnsinn ergriffenen Strukturalisten verwandelnd, der den in weichen Wellen sich aufbauenden unübersichtlichen Gartenhang vermutlich mit Hilfe der viereckigen Formationen zwangszugeometrisieren gedachte, sozusagen ein umgekehrter Meret Oppenheim. (Meret Oppenheim schickte sich wenig später an, ein gleich zweimal, als Form und als Zweckgegenstand, vollkommen durchdefiniertes Kaffee-Gedeck unübersichtlich zu machen bzw. zu entdefinieren, indem sie es mit Gazellen-Pelz bezog.) Der Wind übergab schließlich die weißen, nunmehr schriftlosen Briefe und teilweise mit unverdrossen roten Siegeln versehenen, jetzt unsichtbaren Botschaften und Urkunden versunkener Königreiche der Welt und machte so den Weg frei für Kohlrabi, Rosen- und Blumenkohl, die dann als blaßfarbene, unterseeische Mollusken in unübersehbaren Batterien von Weckgläsern bei täglichen Kontrollgängen durch das Kellerlabyrinth besichtigt werden konnten, was sich stets zu einem Höhepunkt im Unterhaltungsprogramm der Familie Nebe gestaltete. Aber der Vater schnitt aus den nämlichen Manuskriptseiten der nie weniger werdenden Aktenbündel im Archiv auch unerschöpfliche Mengen an Zeichengründen für Anna-Susanna und sie hörte nicht mehr auf zu malen.

Fussnoten

  1.  Die Couveuse war zwar schon erfunden und in Amerika gebaut, aber in die deutsche Praxis noch nicht eingeführt 
  2. Zitat aus: Telephone Song von Lady Gaga, Internet, SongLyrics